Der 4. Kreuzzug – Selbstmord und Wiedergeburt Europas

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Die Schlacht von Konstantinopel im Jahr 1204. [Bild: Wikimedia, Datei: ConquestOfConstantinopleByTheCrusadersIn1204.jpg]
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Wir schreiben das Jahr 300 n. Chr., das gigantische Imperium Romanum erstreckt sich von Portugal bis Syrien und in dessen Hauptstadt kommt Kaiser Konstantin an die Macht. Da das Imperium immer mehr in den Orient expandiert und Rom für diese wichtigen Kolonien zu weit im Westen lag, wird vom jungen Kaiser an einer geostrategisch einzigartigen Stelle am griechischen Fischerort Byzantion sein „Nova Roma“ errichtet: Konstantinopel. Nach nur vier Jahren Bauzeit war der neue Regierungssitz fertiggestellt und wird fortan Geschichte schreiben. Heute geht es um das dunkelste Kapitel dieser Weltmetropole, die wir heute als Istanbul kennen, den vierten Kreuzzug – der folgenschwerste aller Kreuzzüge.


1. Die Welt zum Ende des 12. Jahrhunderts
2. Am Hofe Konstantinopels – Game of Thrones im mächtigen Byzanz
3. Geostrategie Venedig – Das geheime Machtspiel des Enrico Dandolo
4. Christen gegen Christen – Der Höhepunkt des Kreuzzuges
5. „Selbst die Sarazenen wären barmherziger gewesen.“
6. Ausblick – Über die Geburt Istanbuls und den beinahen Selbstmord Europas


1. Die Welt zum Ende des 12. Jahrhunderts

Die Kreuzzüge hinterließen vor allem in der Levante, aber im Grunde im gesamten Orient, tiefe Spuren. Der wohl berühmteste war der erste Kreuzzug, welcher mit der legendären Eroberung Jerusalems im Jahr 1099 endete und die Gründung des Templerordens nach sich zog. Trotzdem ist für mich der vierte Kreuzzug noch prägender, obwohl dieser niemals das „gelobte Land“ erreichte. Die meisten Informationen des Artikels habe ich aus dem fantastischen Buch „A history of the crusades“ („Geschichte der Kreuzzüge“) des Historikers Steven Runcimans entnommen.[1]

Reisen wir nun vom 4. Jahrhundert fast 900 Jahr in die Zukunft ins 12. Jahrhundert. Außer der Republik Venedig und dem Byzantinischen Reich spielte Europa zu dieser Zeit im Kontext der Welt kaum eine Rolle. Das Zentrum der Welt lag vor allem im Orient und durch den Siegeszug des Islams waren die muslimischen Kalifate neben dem chinesischen Kaiserreich die mächtigsten Länder der damaligen Zeit. Ich möchte dies einmal am Beispiel der größten Städte der damaligen Zeit belegen. Während Köln als größte Stadt Deutschlands etwa 40.000 Einwohner hatte und die Bevölkerung Paris und Venedigs nicht einmal 100.000 zählten, lebten in der Tenochtitlan (dem heutigen Mexico-City) der sagenumwobenen Hauptstadt der Azteken etwa 200.000 Menschen und in der japanischen Kaiserstadt Kyoto, sowie Hangzhou, der Kaiserstadt der chinesischem Song-Dynastie 300.000 Menschen.[2] Doch die beiden damals größten Städte lagen im Orient, zum einen war es Konstantinopel und zum anderen Bagdad. Bagdad, das heute leider eher mit Krieg in Verbindung gebracht wird, kann jedoch bis zum großen Feldzug der Mongolen, als das geistige Zentrum der Welt angesehen werden.[3] Die größten Denker der damaligen Zeit studierten im sogenannten „Haus der Weisheit“ und wichtigen Grundlagen unserer Mathematik, Astronomie oder Medizin wurden dort erforscht. Beide Metropolen brachten es auf über eine Millionen Einwohner und stellten somit jede Konkurrenz weit in den Schatten.

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Der Mittelmeerraum und dessen Reiche im Jahr 1167. [Bild: Wikimedia]
Das eigentliche römische Reich war zu dieser Zeit bereits zerfallen, doch Ostrom hatte sich im byzantinischen Kaiserreich mit Konstantinopel als Hauptstadt erhalten. Heute wird der Fokus eher auf das deutsche Heilige Römisches Reich gelegt, dabei war der Einfluss Byzanz wesentlich größer. Dessen Weltmetropole am goldenen Horn war damals, wie auch heute, der Schmelztiegel zwischen Okzident und Orient, sie verband Abend- mit Morgenland und ist bis heute die einzige Stadt auf zwei Kontinenten. Nicht nur war sie mit Abstand die größte Metropole der Christenheit, sondern besaß mit der Hagia Sophia auch seit über 600 Jahren die größte Kirche der Welt und war mit den stärksten Mauern der damaligen Zeit befestigt. Konstantinopel musste eine unglaublich beeindruckende Stadt gewesen sein, dessen Prunk, Reichtum, religiöse Toleranz und einzigartigen Handelsmöglichkeiten wie ein Magnet Menschen von nah und fern anlockte. Nicht nur gab es dort neben Synagogen, bereits Moscheen für muslimischen Kaufleute aus den benachbarten Reichen, sondern selbst aus Skandinavien, England und der heutigen Ukraine lockte sie Wikinger an, welche sich dort zur legendären Eliteleibgarde des byzantinischen Kaisers – der Warägergarde – zusammenzuschlossen.[4] Doch auch kulturell gesehen war Byzanz das „Nonplusultra“. Angefangen von der Architektur, die sowohl für die muslimische, als auch christliche Welt Vorbild war (es reicht hier ein Blick auf die Hagia Sophia, die gleichermaßen Kirchen wie auch Moscheen inspirierte), über Kunst, bis hin zur Mode. Für alle deutschen oder französischen Adelstöchter waren byzantinischen Prinzessinnen Vorbilder und auch auf dem Heiratsmarkt, gab es kaum eine angesehenere Braut als eine byzantinische Perle.[5] Der Einfluss Byzanz war somit vergleichbar mit dem heutigen „American way of life“, zum Ende des 12. Jahrhunderts verblaste der Ruhm Ostroms jedoch allmählich…

2. Am Hofe Konstantinopels – Game of Thrones im mächtigen Byzanz

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Konstantinopel zu dessen goldenen Zeiten als Byzantinische Hauptstadt. [Bild: Wikimedia]
Der Herrscher des Reiches war zu jener Zeit war Isaak II. Angelos, doch der Kaiser war sowohl beim Volk, als auch seiner eigenen Familie unbeliebt. Große Teile des Balkans waren an das Königreich Bulgarien verloren gegangen und auch die Türken drangen stetig weiter nach Anatolien ein. Ebenso nahm innenpolitisch die Korruption unter seiner Regierung ungesunde Ausmaße an und Isaak selbst lebte deutlich verschwenderischer (Sklaven, Mätressen, teure Geschenke), als es die Schatzkammer erlaubte. Im Jahr 1195 riss schließlich sein eigener Bruder Alexios III. mithilfe einer Palastrevolte die Herrschaft an sich. Isaak II. wurde bei der Jagd festgenommen, geblendet und samt seines Sohnes Alexios IV. in den Kerker geworfen. Der neue Kaiser stellte sich in seinem Amt jedoch nur wenig besser als dessen Bruder an.

Der junge Alexios konnte 1201 aus dem Kerker ausbrechen und floh zu seinem Schwager König Phillip von Schwaben ins Heilige Römische Reich. Passenderweise hatte Papst Innozenz III. im Jahr 1198 den vierten Kreuzzug ausgerufen und Philip plante zusammen mit dessen Schwager Bonifatius I. von Montferrat gerade dessen vorgehen. Mit dem geflüchteten Thronerben Alexios IV. ergab sich eine glückliche Fügung, denn dieser bot an, vor dem Feldzug nach Ägypten und ins gelobte Land, einen Abstecher nach Konstantinopel zu machen, um dort seinen Onkel zu stürzen und ihn als neuen Kaiser zu installieren. Als Gegenzug würde er 10.000 Mann dem Heer zu Verfügung stellen und den Kreuzzug durch die byzantinischen Schatzkammer mitfinanzieren.

Als der Papst von den Plänen der Eroberung Konstantinopels hörte, lehnt er diese jedoch ab, da dieser kein Blutvergießen unter Christen duldete. Der Plan war somit Geschichte und der Kreuzzug stand beinahe vor dem aus, denn es fehlten Schiffe und Männer. Doch wie es das Schicksal so wollte, fand sich ein schlussendlich doch ein „Retter“ in der Not, es war der Doge von Venedig, Enrico Dandolo.

3. Geostrategie Venedigs – Das geheime Machtspiel des Enrico Dandolo

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Enrico Dandolo, der 41. Doge der Republik Venedig. Er wird von einigen Historikern als das Mastermind hinter dem 4. Kreuzzug gesehen. [Bild: Wikimedia]
Zu dieser Zeit war der 41. Doge der Republik Venedig bereits 94 Jahre alt, doch keinesfalls entsprach dies seinem geistigen Alter. Gegen die venezianische Unterstützung für Verpflegung, 200 Transportschiffe, 50 bewaffnete Begleitschiffe und mehreren tausend Mann, verhandelte man einen Preis von 84.000 kölnischen Silbermark und den Zuspruch auf die Hälfte der Beute.

Als der Kreuzzug starten sollte, kam es jedoch zu einem weiteren Problem und zwar konnten die Kreuzfahrer nicht genug Geld zusammentreiben, um Venedig zu bezahlen. Im historischen Kontext ist es nur eine Spekulation, aber es ist wahrscheinlich, dass Venedig bereits vorher über den Umstand bescheid wusste. So sendete die Republik beispielsweise im geheimen bereits Unterhändler zum ayyubidischen Sultan Al-Adil I. in Ägypten, um im Gegenzug für die Verschonung seines Reiches vom Kreuzzug, günstige Handelsbedingungen zu erhalten und streute gleichzeitig gezielt „Fakenews“ unter den Kreuzfahrern, um Ägypten als Ziel auszureden.

Enrico Dandolo war dabei kein Alleinherrscher, so konsultierte er mit dem kleinen und großen Rat der Republik und schließlich auch dem „Arengo“ (der Volksversammlung von Venedig). Diese stimmten dafür, dass man die Schuld der Kreuzfahrer aufnehmen werde.[6] Dadurch, dass Venedig nun das Heer finanzierte, hatte  es de facto die Macht über den Kreuzzug und als allererstes wurde die Route gewaltig geändert – das eigentliche Ziel der Kreuzfahrt interessierte die gerissene Handelsrepublik nämlich nicht.

Bonifatius I. der Anführer des Kreuzzuges war zu dieser Zeit gerade von einer unbefriedigten Verhandlung mit dem Papst aus Rom zurückgekehrt und freute sich daher auf die enge Zusammenarbeit mit den Venezianern. Als erste Ziele wurde die Rückeroberungen von venezianischen Kolonien beschlossen. Diese hatten rebelliert oder waren vom ungarischen Königreich erobert worden und diesen Zustand wollte die Republik nicht tatenlos hinnehmen. Feierlich nahm Enrico Dandolo während einer Messe im Markusdom vor tausenden Kreuzfahrern das Kreuz und wurde damit zu deren Anführer. Am 8. November 1202 stach das Heer schließlich in See und die verhängnisvolle Geschichte nahm ihren Lauf.

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Dandolo nimmt das Kreuz, gemalt von Gustave Doré. [Bild: Wikipedia]
Die Küstenstädte wie Triest oder Zadar (italienisch Zara) hatten keine Chance gegen das gewaltige Kreuzfahrerheer und nach der Eroberung Zadars beschloss man dort zu Überwintern. Als der Papst hörte wie sich der Kurs der Kreuzfahrt geändert hatte und christliche Städte erobert wurden, tobte er vor Wut und verhängte den Kirchenbann. Es ist ein schweres Stück, dass die Kreuzfahrt nach gerade einmal einen Monat, bereits unter dem Kirchenbanns stand, auch wenn diese Neuigkeit von den Führern des Kreuzzuges abgefangen wurde und Bonifatius I. und Enrico Dandolo nicht weiter störte.

Die Beute aus Zadar wurde bereits für die Schuldenzahlung Venedigs verwendet, doch es reichte längst nicht. Alexios IV. – welcher sich dort wieder dem Kreuzzug anschloss – bot abermals seine Hilfe an. Er erneuerte seinen Vorschlag, ihn auf den Thron von Konstantinopel zu hieven und im Gegenzug die Schulden an Venedig zurückzuzahlen sowie Soldaten für das Kreuzfahrerheer zu stellen. Ebenfalls versprach der naive Prinz die orthodoxe Kirche in Byzanz wieder unter dem katholischen Glauben zu stellen, um so auch die Wogen mit dem Vatikan zu glätten. Für Enrico Dandolo, dessen größter Widersacher ohnehin Byzanz war, hätte es nicht besser laufen können und so wurde ein neuer Vertrag aufgesetzt. Da der neue byzantinische Kaiser Alexios III. darüber hinaus auch die günstigen Handelsbegünstigungen die Venedig noch unter Isaak II. genossen hatte, der italienischen Republik nicht mehr gewährte, kam dem Dogen eine Lektion gerade recht…

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„Venetian Crusaders under the blind Doge Enrico Dandolo“ gemalt von Albert L. Rawson. Der Junge neben Dandolo, könnte womöglich Alexios IV. sein. [Bild: Wikipedia]
Einigen Kreuzfahrern missfiel dieser Entschluss  jedoch und so trennte sich etliche Streiter vom Hauptheer und stachen selbst in Richtung gelobtes Land in See. Der Großteil war von diesem Kurswechsel aber nicht abgeneigt, da sich im Westen ein regelrechter Hass auf Byzanz entwickelt hatte. Nicht nur war es Neid, sondern auch die Abspaltung (das „Morgenländisches Schisma“) von der katholischen Kirche im Jahr 1054 und die geringe Anteilnahme an den bisherigen Kreuzzügen, missfiel vielen Kreuzfahrern. Dadurch das Byzanz geographisch direkt neben dem expandierenden islamischen Reichen lag, musste dieses verständlicherweise behutsamer mit dessen Nachbarn vorgehen.

4. Christen gegen Christen – Der Höhepunkt des Kreuzzuges

Gesagt getan, nahm das Kreuzfahrerheer Kurs auf das Marmarameer und eroberte auf dessen Weg außerdem weitere ehemalige Kolonien für Venedig zurück. Am Bosporus in Konstantinopel angekommen, mussten die Kreuzfahrer jedoch ernüchternd feststellen, dass sie die Stadt nicht mit offenen Armen empfing und auch Alexios III. seine Herrschaft nicht kampflos aufgab. Im Jahr 1203 startete somit der erste Angriff auf Konstantinopel. Obwohl das Heer über 20.000 Mann stark war, war die Belagerung eine große Herausforderung, denn Konstantinopel war nicht nur gut bemannt, sondern wie bereits anfangs erwähnt mit der besten Verteidigung der Welt ausgestattet. Durch die fehlende Sympathie des Kaisers beim Volk war die Moral der Truppe jedoch geschwächt und trotz der guten Aussichten auf den Sieg, floh Kaiser Alexios III. samt der Staatskasse und dessen Lieblingstochter plötzlich aus der Stadt.[7] Die Belagerung war damit überraschenderweise gewonnen.

Der alten Kaiser Isaak II. wurde von den Bewohnern Konstantinopels aus dem Kerker geholt und erneut als Kaiser von Byzanz ausgerufen. Sein Sohn Alexios IV. wurde zu dessen Mitkaiser erklärt, doch da Isaak durch seine Blindheit und seinem labilen Geisteszustand nicht mehr fähig war zu regieren, war Alexios IV. nun der eigentliche neue Herrscher des Reiches. Mit diesem doch noch recht glimpflichen Ausgang wäre das ganze Kapitel nun eigentlich beendet, doch der Schrecken nimmt hier erst seinen Lauf…

Der Plan war nun, dass Alexios seine Versprechen einlöste und als allererstes die Schulden von Venedig beglich. Hier fängt das Debakel an, denn er konnte nicht genug Geld auftreiben, da sein Onkel die Staatskasse geplündert hatte. Er musste also die Steuern erhöhen und machte sich bereits so gleich zu Beginn seiner Herrschaft unbeliebt. Als er in seiner Not sogar anfing das Kirchensilber einzuschmelzen, schürte er den Zorn seines Volkes noch weiter. Zu allem Übel erfuhr das Patriarchat von Konstantinopel, über Alexios Plan der wieder Verschmelzung mit dem verhassten Vatikan in Rom. Das orthodoxe Oberhaupt Konstantinopels (neben Rom die zweitmächtigste Instanz des damaligen Christentums) war geschockt und wütend über diese Demütigung. Da Alexios griechische Untertanen natürlich wusste, dass er von den lateinisch katholischen Kreuzrittern vor den Toren der Stadt abhängig war, könnte das Misstrauen zwischen dem neuen Kaiser und dessen Bevölkerung nicht größer sein.

Doch nicht nur in seinem eigenen Reich hatte er Schwierigkeiten, auch mit den Kreuzfahrern wurden die Spannungen immer größer, da er trotz seiner Anstrengungen nur die Hälfte der ausgemachten Summe überreichen konnte. Die Historiker sind sich hier etwas uneinig – manche unterstellen Alexios, dass jener die Kreuzfahrer als Kaiser hintergangen hat – doch es spielte im Grunde keine große Rolle, denn Enrico Dandolo machte dem neuen Herrscher wütend klar, dass er nichts weiter als Marionette war: „Wir haben dich aus der Scheiße geholt, und wir werden dich wieder in die Scheiße zurückbringen!“[8] [9]

Der Höhepunkt der Spannungen wurde schließlich erreicht, als eine Gruppe von Franken aus dem Kreuzfahrerheer einen Brandanschlag auf eine der Moscheen der Stadt verübten, welcher einen zweitägigen Großbrand anrichtete, der 100.000 Einwohner obdachlos machte. Kaiser Alexios IV. war ohne Frage unfähig das Debakel zu lösen, Enrico Dandolo kann jedoch durchaus unterstellt werden, den Konflikt absichtlich geschürt zu haben. Er hätte als Anführer des Kreuzzugs Aufschub für die Schulden gewähren und auch die Truppen aus der Stadt zurückziehen können, doch er tat es nicht. In einem entlarvenden Brief schrieb Dandolo über die Vorgänge rund um Konstantinopel, dass sie „göttliche Vorsehung“ seien.[10]

Das Debakel endete schließlich in bürgerkriegsähnlichen Zuständen, in welchen Alexios IV. vom Volk in der Hagia Sophia als abgesetzt erklärt wurde und der erste Kammerdiener am kaiserlichen Hof namens Alexios Dukas (genannt Murzuphlos) schließlich den Kaiser mit Mitverschwörern in eine Falle lockte und in den Kerker sperren lies.[11] Alexios IV. wurde dort mit 22 Jahren erdrosselt und auch sein Vater Isaak fand wenig später den Tod. Als Alexios V. bestieg Alexios Murzuphlos nach am selben Tag den Thron und unternahm radikale Änderungen am Hofe – doch es war zu spät. Die letzten Monate hatten tiefe Wunden in der Bevölkerung hinterlassen und auch die Soldaten war sichtlich zu erschöpft, um einer erneuten Belagerung standzuhalten. Trotz allem, forderte der neue Kaiser vom Kreuzfahrerheer den sofortigen Rückzug. Jene Forderung lehnte dies natürlich ab und so wurde Byzanz erneut der Krieg erklärt.

Im Vertrag „Partitio Terrarum Imperii Romaniae“ wurde die Aufteilung des Byzantinischen Reiches zwischen Venedig und den Kreuzfahrern festgelegt und März 1204 folgte schließlich die endgültige Eroberung des christlichen Konstantinopels durch die Kreuzfahrer. Kaiser Alexios V. floh während der Schlacht aus der Stadt, aber wurde von den Kreuzfahrern geschnappt  und wegen dem Tod an Alexios IV. zum Tod durch Sturz von der Theodosius-Säule verurteilt. In 900 Jahren war die Metropole nicht einmal eingenommen worden und auch für die Warägergarde war dies die letzte Schlacht, da sie sich nach der Belagerung auflöste.

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Die „Einnahme Konstantinopel durch die Kreuzritter“, gemalt von Eugène Delacroix. [Bild: Wikipedia]
Enrico Dandolo und die führenden Köpfe der Kreuzfahrer nisteten sich im Kaiserpalast ein und erlaubten den Soldaten die Stadt drei Tage plündern zu dürfen. Was hierauf geschah, wird als der „größte Kunstraub des Mittelalters“ angesehen.[12]

5. „Selbst die Sarazenen wären barmherziger gewesen.“

Die Plünderung Konstantinopels fiel so grausam und nachhaltig aus, dass der griechische Geschichtsschreiber Niketas folgendermaßen beschrieb: „Selbst die Sarazenen wären barmherziger gewesen.“

Tausende Bewohner fanden hierbei ihren Tod, unzählige Frauen und Nonnen wurden vergewaltigt und auch die Gräber der früheren Kaiser wurden von der Meute geschändigt. Die Kreuzritter waren von einer solchen Zerstörungswut getrieben, dass die Stadt nach der Plünderung einem Trümmerhaufen glich und Straßen von weinenden Kinder- und Frauengeschrei erfüllt waren. Der Thron des Patriarchen wurde entweiht und selbst vor der Hagia Sophia wurde nicht halt gemacht. Betrunkene Soldaten zerstörten ihren Altar und Heiligenbilder, tranken Alkohol aus den Altargefäßen und vergewaltigten Frauen in ihr. Bürger Konstantinopels, die sich selbst an der Plünderung beteiligten, wurden darüber hinaus unter Folter von den Kreuzrittern genötigt, ihr Diebesgut an sie auszuhändigen.

Die Venezianer hingegen gingen die ganze Sache anders an, denn sie konnten den Wert von Kunst und Kostbarkeiten sehr gut einschätzen und suchten so gezielt Stücke aus, die sie Rauben wollten. Konstantinopel war damals die Stadt mit den wertvollsten Schätzen der Welt, allein die alten Schriften, die sich dort sammelten, waren von unglaublicher Wichtigkeit, wie gerettete Werke aus der Bibliothek von Alexandria. Zu den bekanntesten Raubgütern zählten unter anderem die Dornenkrone und ein Stück des Kreuzes von Jesus Christus (diese Reliquien wurde später für eine horrende Summe von Venedig an Frankreich verkauft) oder auch die „Pferde von San Marco“ die bis heute den Markusdom schmücken. Auf 900.000 Silbermark wird die gesamte Kriegsbeute geschätzt, was eine solch gewaltige Summe ist, wie sie im Mittelalter nie wieder vorkommen wird. Ein ganzer Wikipedia Artikel befasst sich nur mit dem Beutegut aus Konstantinopel. Die einstige Weltmetropole wurde im wahrsten Sinne vergewaltigt und ausgeblutet, das zeigt sich auch an dessen Bevölkerung, welche in den kommenden Jahren von einer Millionen auf unter 40.000 (!) fiel.[13]

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Die Aufteilung Byzanz nach dem 4. Kreuzzug, grün sind dabei die neuen venezianischen Kolonien. [Bild: Wikimedia]
3/8 Achtel der Eroberung wurde den Kreuzfahrer zugeschrieben, 3/8 den Venezianer und 1/4 sollte der neue Kaiser erhalten. Das griechische Byzantinische Reich wurde aufgelöst und ein neues sogenanntes „Lateinisches Kaiserreich“ unter der Marionette Kaiser Balduin von Flandern ausgerufen.[14] Die Venezianer erhielten neben den Schätzen aus Konstantinopel und der Herrschaft über Teile der Stadt, zudem fast alle wichtigen byzantinischen Mittelmeerhäfen, viele der Ägäischen Inseln und Kreta als Kolonien geschenkt. Wie kein Anderer nach ihm hatte Enrico Dandolo in einem Alter von über 90 Jahren die Republik Venedig zu nie dagewesener Macht ausgebreitet.

In Europa selbst freute man sich über die Eroberung, da man dachte, dass die Kirche wieder unter dem Papst in Rom vereint wird und die lateinisch/westliche Lebensweise nun von den Griechen übernommen wird. Auch Papst Innozenz III. schrieb in einem Brief an den neuen Kaiser, dass er „den Herrn lobe und preise“ – der Kirchenbann war Schnee von gestern. Die wahren Folgen der Belagerung waren jedoch gravierend und um ein Haar hätte sich Europa selbst die Kehle durchgeschnitten…

6. Ausblick – Über die Geburt Istanbuls und den beinahen Selbstmord Europas

Fangen wir mit dem offensichtlichsten an: Die Fremdherrschaft der lateinischen Adeligen hielt nicht lange, bereits 1261 wurde das Lateinisches Kaiserreich wieder von den Griechen erobert – auch wenn das wiederauferstandene Byzantinische Reich nie wieder seinen alten Glanz zurückerlangen wird. Ein weiterer schwerer Schlag für die westlichen Reiche war, dass die Kreuzritter durch das Massaker von Konstantinopel logischerweise nicht die Vereinigung, sondern die endgültig die Spaltung zwischen der orthodoxen und katholischen Kirche herbeiführten. Die tiefen Wunden die der vierten Kreuzzug in das Christentum schlug sind teilweise bis heute spürbar.

Durch den Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert, verzögerte das endgültige Ende Byzanz zwar noch etwas, doch 1453 war es schließlich soweit, dass Sultan Mehmed II. Konstantinopel eroberte. Als der Sultan nach der gewonnenen Belagerung und Plünderung, durch die Stadt ritt und die Hagia Sophia betrat, soll er der Legende nach geweint haben, da er so sehr von ihrer Schönheit ergriffen war. Voller Mitleid soll er gerufen haben: „Welch eine Stadt haben wir der Plünderung und Verwüstung ausgeliefert!“ Dies ist leider kein Scherz, der Sultan des Osmanischen Reiches hatte mehr Mitgefühl mit der Stadt und dessen christlichen Bevölkerung, als die Kreuzfahrer jemals fähig waren. Die Hagia Sophia (türkisch „Aya-Sofya“) und weitere byzantinischen Kirchen wurden zu einem Großteil nicht einmal von den Türken zerstört, sondern einfach zu Moscheen umgewandelt. Interessanterweise lies sich Mehmed II. in der Hagia Sophia sogar zum „Kayser i Rum“, also „Kaiser von Rom“ ausrufen und sah sich so neben Sultan des Osmanischen Reiches auch als Nachfolger der byzantinisch/römischen Kaiser.

Mit dem Fall Konstantinopels 1204 hat sich Europa vor allem das eigene Bollwerk zerstört, denn ein Hauptgrund, weshalb der Islam nicht schon viel früher nach Europa eindrang, war das Schutzschild Byzanz. Dadurch das dieses durch durch die Kreuzfahrer erheblich geschwächt wurde, war es kein Wunder, dass das Osmanische Reich schlussendlich bis nach Österreich expandieren konnte.

Vielleicht noch zwei Takte zur Hagia Sophia: Ich selbst bestaunte sie bereits mit meinen eigenen Augen und für mich ist sie mit Abstand eines der schönste Bauwerk, dass ich jemals sah. In der Zeit als ich sie besuchte (2018) war sie noch ein Museum und für mich gibt es aus historischer Sicht keine bessere Lösung. Im Inneren kann man sowohl die islamischen Verzierungen und Teppiche, wie auch die freigelegten christlichen Reliefs bestaunen. Diese einmalige Verbindung und Harmonie zwischen Islam und Christentum hat mich sogar so sehr fasziniert, dass ich sie gleich zweimal während meines Aufenthaltes in Istanbul besuchte. Die einzigartige Schönheit, die beiden Weltreligionen vereint zu sehen, ist atemberaubend und auch der Grund weshalb ich kritisch zu den Plänen Erdogans zur Rückwandlung in eine Moschee stehe.

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Das fantastische Gewölbe der Hagia Sophia. Maria mit dem Jesuskind wird von der arabischen Kalligrafie des Islams flankiert. [Bild: Privat]
Ohne Frage hat sich Europa durch die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1204 ins eigene Fleisch geschnitten und einmal mehr zeigt sich, dass sich mit Gewalt etwas Entzweites nicht mehr vereinen lässt. Der eigentliche große Feind der Kreuzfahrer – der Islam – war nach dieser Katastrophe so überlegen wie nie zuvor und hätte Europa wohl ohne Problem überrollt, hätte ein gewisser Dschingis Khan nicht zeitgleich die Völker der Mongolei unter sich vereint. Der einzige große Gewinner dieser Geschichte neben dem Osmanischen Reich ist Venedig und ich habe diese hochspannende Episode der Geschichte auch ausgesucht, da sie so wunderbar die große Rolle der Geopolitik aufzeigt. Die italienische Republik hatte kein Interesse an Jerusalem, sie wollte ihre Konkurrenz ausschalten und ihre Macht im Mittelmeer ausweiten und dafür war es auch recht, die Kreuzfahrer für die eigenen Pläne auszunutzen. Diese kalkulierte Sichtweise wird in unseren heutigen Konflikten in der Berichtserstattung oftmals ausgeblendet, dabei ist sie auch heute ebenfalls gang und gebe.

Die Tragödie hatte jedoch noch einen ganz anderen Nebeneffekt, und zwar flohen in Folge des vierten Kreuzzugs und der späteren Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen hunderte griechische Gelehrte ins westliche Europa – vor allem nach Italien. Durch diesen gigantischen Transfer von Wissen und der Lebensart der byzantinischen Kultur, wurde eine neue Epoche ausgelöst, die uns heute als Renaissance bekannt ist. Da durch die Herrschaft von Venedig und dem Osmanische Reich für andere Reiche der Zugang zum Mittelmittelmeer blockiert wurde, begann außerdem der Aufstieg Spaniens und Portugal. Westeuropa musste erfinderisch werden, um nicht unterzugehen und neue Handelsrouten zu den großen Märken nach Asien finden.[15] Einer unter diesen Pionieren war der italienische Kapitän Cristoforo Colombo, der am 3. August 1492 unter der Krone Kastilien und León mit seinem Flaggschiff Santa Maria in See stach, um einen neuen Seeweg nach Ostasien zu finden…

Der eigentlich unfaire Aufstieg Europas zur Weltmacht hatte begonnen.


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Das wunderschöne Goldene Horn Istanbuls fotografiert im Sommer 2018. [Bild: Privat]

Quellenverzeichnis

1 Steven Runcimans: A history of the crusades (Geschichte der Kreuzzüge). Beck 1957–1960
2 https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6ln
3 https://www.youtube.com/watch?v=Hm4Sg086uLg
4 https://de.wikipedia.org/wiki/War%C3%A4gergarde
5 Peter Frankopan: The Silk Roads: A New History of the World (Licht aus dem Osten: Eine neue Geschichte der Welt). Bloomsbury 2015
6 https://www.wikiwand.com/de/Enrico_Dandolo#/Vierter_Kreuzzug,_Separatismus_und_Tod_(1202%E2%80%931205)
7 http://www.manfred-hiebl.de/mittelalter-genealogie/_byzanz/a/alexios_3_kaiser_von_byzanz_1211/alexios_3_kaiser_1211.html
8 Heinrich Kretschmayr: Geschichte von Venedig: Erster Band. Gotha 1905
9 https://de.wikipedia.org/wiki/Enrico_Dandolo
10 Alfred J. Andrea: Contemporary Sources for the Fourth Crusade. Hackett 2000
11 http://www.manfred-hiebl.de/mittelalter-genealogie/_byzanz/a/alexios_4_kaiser_von_byzanz_1204/alexios_4_kaiser_1204.html
12 https://www.grin.com/document/182349
13 https://de.wikipedia.org/wiki/Bev%C3%B6lkerungsentwicklung_von_Istanbul
14 https://www.geschichte-abitur.de/mittelalter/lateinisches-kaiserreich
15 Peter Frankopan, The Silk Roads: A New History of the World (Licht aus dem Osten: Eine neue Geschichte der Welt), Bloomsbury 2015

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