Die Konferenz von Évian – Über den blinden Fleck der Alliierten

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Als US-Vertreter spricht Myron Taylor auf der Konferenz von Évian. [Bild: Wikimedia, Datei: Myron Taylor addresses the Évian Conference.jpg]
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Mit diesem Artikel möchte ich die Serie „Zeitsprung“ ins Leben rufen, in welcher ich den Blick auf weniger bekanntere historische Ereignisse legen, beziehungsweise eine alternativen Sichtweise auf scheinbar bekannte Sachverhalte darbieten will. Für mich persönlich ist Geschichte eines der spannendsten Forschungsfelder überhaupt, denn bereits George Orwell hatte in „Nineteen Eighty-Four“ erkannte: „who controls the past controls the future“.[1]

Starten will ich mit der sogenannten Konferenz von Évian, welche auf das Jahr 1938, also die dunkle Zeit des Dritten Reiches, datiert ist. Gerade im Bezug auf die NS-Zeit möchte ich den Finger in die Wunde legen und nach und nach aufdecken, weshalb es kein Wunder war, dass Hitler so mächtig wurde und dass dieser sehr wohl viele Freunde und Sympathisanten nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb Deutschlands hatte. Ich möchte damit nicht die Taten der Nationalsozialisten kleinreden, sondern lediglich einige Schleier lüften, um ein ganzheitliches Bild bieten zu können. Reisen wir also zurück ins Jahr 1938, denn fünf Jahre nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler war die Lage Deutschlands bereits mehr als angespannt.


  1. Deutschland 1938 – Die bedrückende Lage war weit sichtbar
  2. Moralisch überlegene Alliierte?
  3. Roosevelt bringt die Welt in Évian zusammen
  4. Das vernichtende Ergebnis der Konferenz
  5. Rezessionen des Ereignis
  6. Aufarbeitung? – Eine Kritik

1. Deutschland 1938 – Die bedrückende Lage war weit sichtbar

Noch im Jahr der „Machtergreifung“ Hitlers 1933 wurde sehr schnell deutlich, wohin die Reise gehen würde. Nach dem mysteriösen Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933, wurde durch die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ die „Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief[…]-geheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums […] zulässig“ (§ 1). Wenig später hieß es im sogenannten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, dass Beamte „nicht arischer Abstammung […]  in den Ruhestand zu versetzen“ (§ 3, Abs. 1) sind. Nicht nur wurden somit bereits im ersten Jahr die Grundrechte massiv eingeschnitten, sondern auch die erste Züge zur Vollendung der rassistischen Idealvorstellung gelegt. Der größte Einschnitt für die jüdische Bevölkerung in Deutschland folgte durch das sogenannte „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (eines der berüchtigten „Nürnberger Gesetze“) welches ab 15. September 1935 Juden schließlich die Ehe und „außerehelichen Verkehr“ mit Deutschen verbot. Dadurch, dass ebenso das „Hissen der Reichs- und Nationalflagge“ untersagt und das Zeigen „jüdischen Farben“ erwünscht wurde, wurde bereits die sichtbare Trennung angestrebt. 1938 wurde Juden schließlich erst verboten als Arzt und später als Rechtsanwalt tätig zu sein und mit der „Verordnung über Reisepässe von Juden“, all ihre Reisepässe als ungültig erklärt.[2] [3] [4] Am deutlichsten wird die Härte der nationalsozialistischen Linie nach dem „Anschluss“ Österreichs am 13. März 1938, als im Eilverfahren alle obig beschriebenen Gesetzte durchgeführt wurden. Dass es in Deutschland eine systematische Verfolgung und Unterdrückung gab, ist somit selbst auf rechtlicher Basis unumstritten und auch nach außen hin eigentlich offensichtlich gewesen.

Zwischen 1933 und 1937 waren bereits etwa 130.000 Juden aus dem Deutschen Reich emigriert und bis 1939 wuchs Zahl auf über 500.000.[5] Die Mehrheit (102.200) flohen in die USA, viele weitere nach Südamerika, Palästina oder auch Shanghai.  Zu den direkten Nachbarn flohen ebenfalls weit mehr als hunderttausend, wobei deren Schicksal meistens keinen glimpflichen Ausgang genommen hatte. Allein die deutschen Universitäten verloren durch in der Zeit der NS-Diktatur etwa 20 % ihrer Lehrkörper.[6]

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Diese Karte des „Anne-Frank-Haus“ zeigt die Flüchtlingsströme zwischen 1933-1939 aus dem Deutschen Reich.  [Bild: Anne Frank Stichting, Amsterdam]
Da speziell nach der Annexion Österreichs die Flüchtlingsströme ins Ausland drastisch anstiegen, wurde der Druck auf das Ausland immer größer endlich dem Problem entgegenzuwirken. Bevor wir uns der Konferenz von Évian nähern, möchte ich jedoch zuvor einen Blick auf den Rest der Welt werfen.

2. Moralisch überlegene Alliierte?

Das größte und mächtigste Land der damaligen Zeit war noch das britische Empire, welches von London aus ¼ der Weltbevölkerung beherrschte und diese in einem klassistischen und rassistischen System gefügig machte. Am bekanntesten ist heute dabei die Kolonialgeschichte in Südafrika, in welcher von den Briten der Weg in den Apartheitsstaat geebnet wurde.[7] Die schwarze Bevölkerung hatte nicht nur kein Wahlrecht, sondern es wurde ihr mit dem „Immorality Act“ aus dem Jahr 1927 „Rassenvermischung“ mit Weißen verboten. Wohlgemerkt 8 Jahre vor den „Nürnberger Rassengesetzten“.[8] Afrika ist dabei nur ein Aspekt, denn ebenfalls konnte man beispielsweise in öffentlichen Parks von Hong-Kong Schilder mit der Aufschrift „Chinesen und Hunde draußen bleiben“ lesen und große Teile des indischen Subkontinents waren lange Zeit im Privatbesitz der „East India Company“, welche das riesige Land nach belieben ausbeutete.[9] [10] Aufgrund großer Unruhen im heutigen Israel stoppte die britische Regierung 1939 darüber hinaus sogar die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge nach Palästina.[11]

Die rassistische Kolonialherrschaft Belgiens auf der anderen Seite forderte im Kongo zu ihrem Höhepunkt unter den sogenannten „Kongogräuel“ schätzungsweise 10 Millionen Todesopfer und dezimierten somit durch Zwangsarbeit, willkürliche Bestrafungen und Folter die Einwohner des Landes um die Hälfte (!).[12]

Auch Frankreich blickt auf eine lange Kolonialgeschichte zurück und selbst im Jahr 1962 schwebte Präsident Charles de Gaulle noch durch ein gescheitertes Attentat in Lebensgefahr, da er das Ende der Kolonialzeit für Algerien forderte.[13]

Die Sowjetunion war bekannterweise ebenfalls alles andere als ein Friedensengel und am meisten litt unter den Schreckensherschafften von Lenin und Stalin die eigene Bevölkerung. Im Gegensatz zu den anderen Alliierten, wird die sowjetische Vergangenheit jedoch mittlerweile in ein korrekteres historisches Bild gerückt.

Auf der anderen Seite des Atlantiks, finden wir schließlich mit den jungen Vereinigten Staaten von Amerika den damals scheinbar noch unbeflecktesten Staat, doch schon dessen Fundament beruht auf Landraub und war Teil des größten Sklavenhandels der Geschichte. Auch wenn ich einmal die Früchte der europäischen Eroberung ausblende, hat es fast 100 Jahre nach dem offiziellen Ende der Sklaverei durch Präsident Abraham Lincoln gedauerte, bis die Rassentrennung 1964 in den USA offiziell aufgehoben wurde.[14]

Diese Aufzählung mag nun willkürlich wirken, jedoch ist sie im Kontext wichtig, um zu verstehen, dass in der Zeit, während die NSDAP in Deutschland an Macht gewann, die Welt deutlich amoralischer war. Es ist dabei nicht nur auf Europa oder Amerika beschränkt, auch zum Beispiel das Osmanische Reich oder die Militärdikatur des Japanischen Kaiserreichs reiht sich hier mit ein, vor allem das Sklaventum war vor der allmählichen Abschaffung durch Großbritannien fast auf der ganzen Welt verbreitet. Natürlich war es gut, dass die Alliierten den 2. Weltkrieg gewonnen haben, nur waren deren Westen eben nicht so weiß, wie sie selbst und manch ein Historiker es gerne darstellt. Heute wird oft leichtfertig behauptet, dass Rassismus und Antisemitismus vor allem deutsche Probleme wären, dabei waren diese Ideologien damals viel weiter verbreitet und Hitlers Weltansicht wesentlich opportuner, als sie es uns heute erscheinen. Deutlich wird dies vor allem bei der „Konferenz von Évian“.

3. Roosevelt bringt die Welt in Évian zusammen

Der Druck auf die Welt war wie bereits beschrieben groß und so lud US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt vom 6. bis 15. Juli 1938 zu einer Konferenz nach Évian ein. Eigentlich war als Austragungsort zunächst Genf als Sitz des Völkerbundes vorgesehen, doch da die Schweiz ihre guten Beziehungen zum Deutschen Reich nicht strapazieren wollte, wurde stattdessen das beschauliche französische Städtchen Évian-les-Bains ausgewählt, welches heute vor allem für dessen Mineralwasser der Marke evian bekannt ist.[15]

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Das „Hotel Royal“ in Evian, wo die Konferenz stattfand. [Bild: Wikimedia]
Delegierte aus insgesamt 32 Nationen, sowie Vertreter von 39 NGOs und Hilfskomitees kamen dort zusammen, um eine Lösung für das Flüchtlingsproblem zu finden.[16] Deutschland, Italien, Japan, die Sowjetunion, Tschechoslowakei und Ungarn waren dabei nicht eingeladen. Laut dem Historiker Winfried Meyer wurde außerdem vorab klargestellt, dass von keinem Staat erwartet wurde, „mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als es den geltenden gesetzlichen Bestimmungen […] entspreche“, was dazu führte, dass viele Länder ihre Einreisebestimmungen verschärften.[17]

Aufgrund früher Prognosen ging man zunächst von 100.000 Flüchtlingen pro Jahr aus, die zu gerechten Teilen zwischen den teilnehmenden Staaten aufgeteilt werden sollten. Die Perspektive von insgesamt 500.000 deutschen Flüchtlinge, sollte jedoch in den nächsten Jahren rapide auf mehrere Millionen durch die Expansion des Deutschen Reichs ansteigen.

4. Die Ergebnisse der Konferenz

Um die Ergebnissen der 9-tägigen Konferenz übersichtlicher zu gestalten, möchte ich in diesem Kapitel anhand einer Tabelle die Länder aufzählen, die (nach meinen Recherchen) überhaupt bereit waren zu helfen und in welchem Umfang:

04-TabelleDie angebotene Hilfe reichte somit längst nicht aus, dem Flüchtlingspotential gerecht zu werden. Böse kann man nach diesen ernüchternden Zahlen also Schlussfolgern, dass der Welt das Schicksal der Juden und anderen verfolgten Minderheiten in Deutschland schlicht egal war. Frankreich ist das einzige Land, das sich hier insofern entschuldigen kann, da es kurz davor bereits 600.000 italienische und 500.000 spanische Flüchtlinge der dortigen Diktaturen aufgenommen hatte.[19] Wunderbar hatte der australische Delegierte Sir Thomas. W. White die Grundstimmung der Konferenz mit folgenden Worten eingefangen: „as we have no real racial problem, we are not desirous of importing one.“[20] Sir White war übrigens die einzige Person welche das Wort „Jude“ benutzte, einmal davon abgesehen, dass Juden sowieso kein Mitspracherecht bei der Konferenz hatten.[21]

Da die Teilnehmer sehr wohl über ihr Dilemma bescheid wussten, wurde als mögliche Lösung auch darüber debattiert das „Problem“ schlicht durch Flüchtlingsgebiete aus dem Blickwinkel zu schaffen. Dabei kam das sowjetisch autonome Gebiet Birobidschan, die portugiesischen Kolonie Angola oder Madagaskar in den Sinn. Erschreckenderweise war im sogenannten „Madagaskarplan“ das afrikanische Eiland als „Judeninsel“ ebenfalls eine Idee der Nazis selbst gewesen.[22]

Der einzig konkrete Ansatz der Konferenz bestand schlussendlich in der Gründung des „Intergovernmental Committee on Refugees“, welches durch die Zusammenarbeit mit Deutschland selbst die Ausreise managen sollte. Ziel war es so die Regulierung der Flüchtlinge den Nazis selbst zu überlassen, was leider kein böser Scherz war, sondern tatsächlich geschah. Das Problem wurde also einfach auf die Täter übertragen. 1939, ein Jahr später wurde in Berlin parallel dazu die „Reichzentrale für jüdische Auswanderung“ gegründet, um unterstützend möglichst viele Juden auswandern zu lassen.[23] Dieser schwache Ansatz der „Konferenz von Évian“ scheiterte jedoch schlussendlich nicht nur an den viel zu strengen Auflagen der Nazis, sondern auch am Rest der Welt, da dieser nach wie vor keine Bereitschaft zeigte Juden (und andere verfolgte Minderheiten) aufzunehmen. Das wenig glorreiche „Intergovernmental Committee on Refugees“ wurde 1947 übrigens als die heute bekannte „Internationale Flüchtlingsorganisation“ in die UN aufgenommen.[24]

5. Rezessionen

Ohne große Überraschung hat die Konferenz die jüdische Welt schwer getroffen. Golda Meir, spätere Ministerpräsidentin Israels, hielt als Teilnehmerin der Konferenz folgendes fest:

„Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung.“[25]

In der Tat, man kann ihre Fassungslosigkeit nachvollziehen. Selbst das NS-Regime war enttäuscht über Ergebnis. „Deutschland biete der Welt seine Juden an, aber keiner will sie haben“ kommentierte beispielsweise der „Völkischer Beobachter“ sarkastisch und hatte damit sogar Recht.[26] Adolf Hitler selbst entlarvte die Teilnehmer präzise als die Heuchler die sie waren:

„Ich kann nur hoffen und erwarten, dass der Rest der Welt, welcher diesen Verbrechern [gemeint sind die Juden] so großes Mitgefühl entgegenbringt, großzügig genug ist, dieses Mitgefühl auch in tatsächliche Hilfe umzuwandeln. Wir unsererseits sind bereit, all diese Verbrecher ihren Ländern zur Verfügung zu stellen, wegen mir auch auf Luxusschiffen.“[27]

Hitler traf mit seiner Aussage tatsächlich den Kern der Sache, zwar mögen sich die Alliierten Deutschland moralisch überlegen gefühlt haben, aber als es darum ging dies tatsächlich zu beweisen wurde gekniffen. Es ist mehr als bezeichnend, dass auf der „Konferenz von Évian“ die offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen Deutschlands nicht angeprangert wurden.[28] Alles in allem war es also eine Veranstaltung, um seine Anteilnahme kund zu tun, aber nicht tatsächlich zu helfen – die widerlichste Art des Opportunismus.

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Diese antisemitische Karrikatur der österreichischen Tageszeitung „Das Kleine Blatt“ vom 31.08.1939, ist in seiner Darstellung zwar indiskutabel, jedoch gibt sie perfekt die damalige Situation wieder. Durch das Rattenmotiv zeigt sie ungewollt zudem wunderbar auf, wie die Flüchtlinge vom Rest der Welt beeugt wurden.

Professor Paul Bartrop endet seinen Vortag „Failing to Understand Failure: Reassessing the Evian Conference of 1938“ zu diesem Thema mit einem äußerst passenden Zitat des Holocaust Überlebenden Elie Wiesel, welches ich ebenfalls an dieser Stelle anbringen möchte:

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“

Ich möchte dies mit einem weiteren Zitat Elie Wiesels anreichern:[29]

„Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer, Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.“

Oft wird die „Konferenz von Évian“ mit dem später folgenden Holocaust in Verbindung gebracht, ich würde abstreiten, dass eine erfolgreiche Konferenz den Holocaust tatsächlich verhindert hätte, jedoch geht es mir in dieser Kritik auch nicht darum. Bis zum Überfall auf Polen und der darauffolgenden Kriegserklärung Frankreich und Großbritanniens im Jahr 1939 hatte das NS-Regime quasi mit keinen Sanktionen zu kämpfen, ganz im Gegenteil wurde es teilweise noch unterstützt (ich werde dies noch vertiefen). Auf der „Konferenz von Évian“ hätte man ein klares Zeichen setzen und sich gegen Deutschlands Menschenrechtsverletzungen positionieren können, doch man hat durch seine Gleichgültigkeit den Nazis schlicht zugenickt. Egal wie sehr sich die Alliierten später davon distanzierten, in der Stunde der Not hatten sie bewusst weggesehen.

6. Aufarbeitung? – Eine Kritik

Eine gewisse Tendenz in der Berichterstattung zur „Konferenz von Évian“ ist mir öfter aufgefallen, am besten wird diese durch den Historiker Götz Aly im Deutschlandfunk ausgedrückt:

 „Da sollte man nicht aus verdecktem Antiamerikanismus sagen oder auch aus Gründen der Schuldverschiebung weg von Deutschland, die amerikanische Regierung, die internationale Gemeinschaft versagt. Die haben sich angestrengt und natürlich kamen dann die Widersprüche auf und die Probleme, aber hauptsächlich ist das Projekt an Deutschland gescheitert.“

Man sollte also keine Kritik an den Alliierten üben, da es sich um „verstecktem Antiamerikanismus“ handelt? Nun es wird hier die gleiche Taktik angewandt, welche ich bereits in meinem Artikel zu Dirk Müller aufzeigte: Kritik an amerikanischer Politik wird mit einem angeblichen Hass auf Amerika gleichgesetzt. An dieser Stelle muss ich persönlich werden, denn es beschämt mich, wie sich ein Manipulator wie Sie, Herr Aly, Historiker nennen können. Daran, dass Deutschland die Hauptschuld trägt, gibt es keinerlei Zweifel, doch daran, dass sich die internationale Gemeinschaft „angestrengt“ habe, schon. Die Schuldverschiebung findet hier von der anderen Seite statt.

Die „Konferenz von Évian“ ist tatsächlich ein Ereignis, dass die Alliierten Rückwirkend wohl am liebsten ungeschehen gemacht hätten und es ist auch nicht schwer zu erraten, weshalb sie fast nicht in unserer modernen Geschichtsschreibung auftaucht. Sie passt schlicht nicht ins Weltbild. Deshalb findet keinerlei Aufarbeitung statt und wenn wird sie oft beschönigt wie im Falle des Deutschlandfunks.

Wenig später heißt es im Artikel „kaum jemand hätte sich in jenen Julitagen vorstellen können, dass in Deutschland schon bald die Synagogen brennen würden“. Doch das hätte man und das habe ich im ersten Kapitel aufgezeigt. Es war weit sichtbar, dass es den Juden in Deutschland an den Kragen ging und es gibt nur drei Gründe, das als Teilnehmer der „Konferenz von Évian“ nicht geahnt zu haben: Berufliche Unfähigkeit, Sympathie oder (am wahrscheinlichsten) Ignoranz.

Vor gut einem halben Jahr habe ich selbst die Gedenkstätte des KZ Auschwitz-Birkenau besichtigt und unter anderem konnte man dort eine geheime Luftaufnahme des Lagers von amerikanischen Spionageflugzeugs sehen. Mit Wut und Trauer in der Stimme verkündete mein polnischer Tourguide damals, dass die Alliierten bereits früh über Auschwitz-Birkenau und auch den Holocaust bescheid wussten, aber nicht entsprechend handelten. Dies deckt sich auch mit meinem Artikel über den späteren CIA-Chef Allen Dulles, welcher damals als OSS-Spion in der Schweiz lange der amerikanischen Regierung bewusst Informationen über den Holocaust enthielt. Natürlich war Deutschland in dieser Zeit sehr mächtig geworden, doch weshalb hatte man so lange gezögert? Lag es tatsächlich nur daran, dass die Nazis unterschätzt wurden?

In der modernen Geschichtsschreibung wird der Eingriff der Alliierten in den 2. Weltkrieg gerne als humanitäre Intervention gesehen, doch dies war er höchstwahrscheinlich nicht. Die „Konferenz von Évian“ ist einer der Beweise dafür, dass der Welt das Leid der Juden lange Zeit schlicht gleichgültig war und Nächstenliebe in der strategischen Geopolitik keinen Platz hat oder nur als Deckmantel wahrer Interessen fungiert.


Quellenverzeichnis

1. George Orwell: Nineteen Eighty-Four. Penguin 2008
2. http://www.documentarchiv.de/ns/1938/reichsbuergergesetz_vo04.html
3. http://www.documentarchiv.de/ns/1938/reichsbuergergesetz_vo05.html
4. http://www.documentarchiv.de/ns/jdnpass.html
5. https://www.annefrank.org/de/anne-frank/vertiefung/die-fehlenden-moglichkeiten-zu-fluchten-judische-emigration-1933/
6. https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2007_1_5_gruettner.pdf
7. https://www.planet-wissen.de/kultur/afrika/geschichte_suedafrikas/index.html [26.10.2020]
8. https://de.wikipedia.org/wiki/Immorality_Act [26.10.2020]
9. Baron Stefan, Yin-Baron Guangyan: Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht. Econ 2018
10. https://www.nationalgeographic.com/culture/topics/reference/british-east-india-trading-company-most-powerful-business/ [28.10.2020]
11. https://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44971/briten-im-heiligen-land?p=1
12. https://www.geo.de/wissen/21456-rtkl-koenig-leopold-ii-wie-belgiens-koenig-zum-brutalsten-kolonialherrn-afrikas-wurde [28.10.2020]
13. Talbot Davit: The Devil’s Chessboard: Allen Dulles, the CIA, and the Rise of America’s Secret Government. Harper 2015
14. https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-gleichberechtigung-die-aufhebung-der.724.de.html?dram:article_id=290732 [28.10.2020]
15. https://www.evian.com/de_ch/ueber-evian/unsere-geschichte
16. https://www.deutschlandfunk.de/80-jahre-konferenz-von-evian-juden-unerwuenscht.2540.de.html?dram:article_id=422068
17. https://www.deutschlandfunk.de/80-jahre-konferenz-von-evian-juden-unerwuenscht.2540.de.html?dram:article_id=422068
18. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2016/09/asylsuchende-2015.html
19. https://www.deutschlandfunk.de/80-jahre-konferenz-von-evian-juden-unerwuenscht.2540.de.html?dram:article_id=422068
20. http://www.holocaust.org.au/mm/i_australia.htm
21. https://www.youtube.com/watch?v=XPivej0otPE
22. https://de.wikipedia.org/wiki/Madagaskarplan
23. https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-reichszentrale-fuer-juedische-auswanderung/
24. https://www.britannica.com/topic/Intergovernmental-Committee-on-Refugees
25. https://www.thenewhumanitarian.org/analysis/2015/11/18/look-back-and-learn-evian-conference-1938
26. https://www.zeit.de/2018/26/deutsche-juden-aufnahme-evian-1938
27. http://www.acpr.org.il/nativ/0902-birnbaum-E2.pdf
28. https://www.youtube.com/watch?v=XPivej0otPE
29. https://gutezitate.com/zitat/180444
30. https://www.deutschlandfunk.de/80-jahre-konferenz-von-evian-juden-unerwuenscht.2540.de.html?dram:article_id=422068

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